INSPEKTOR SVENSSON: WANNABE SVENSSON [Der neue Adventskalenderroman]

Die folgenden Ereignisse finden zwischen 10 und 11 Uhr am Vortag zum Heiligen Abend des Jahres 2009 nach Christi Geburt statt. Alles, was Sie lesen, ereignet sich in Koordinierter Weltzeit UTC.

23.12.2009 - 10:00 UHR

[Lukas ruht weiter sanft, Wannabe muß dran glauben]

Unter dem Verdeck von Paulis Planwagen fand sich unterdessen Charles Wannabe in gebückter Haltung mitten in einem schmalen Gang zwischen unzähligen, auf- und ineinander gestapelten Holzkisten und Pappkartons wieder, die allesamt in aufgemalten schwarzen Farbbuchstaben ihren Inhalt preisgaben: Kleidung, Decken, Lebensmittel, Geschirr, Spielzeug, Zeitungen, Medikamente. In Wannabes Rücken stand Pauli, die mitgeführte Eisenstange fest in der Hand haltend und zugleich den einzigen möglichen Fluchtweg nach draußen versperrend. Der gute, alte Charles nahm in dieser schier aussichtslosen Situation schließlich all seinen Mut zusammen und drehte sich zu Pauli um. Wenn dieser miese Kerl ihm schon Gewalt anzutun gedachte, so sollte das gefälligst von Angesicht zu Angesicht geschehn. Schritt für Schritt sah er den schwarzen Mann unaufhaltsam auf sich zukommen, bis dieser nur noch einige wenige Zentimeter von ihm entfernt stand. Den sicheren Tod in Form der eisernen Brechstange unmittelbar vor Augen kniff der Ex-CI7-Chef schließlich die Augen zusammen und preßte dabei mit zittriger Stimme durch seine Lippen hervor: "Also dann, ich bin bereit! Tun Sie, was Sie glauben, tun zu müssen!". Und wie er so dastand - in gebeugter Haltung mit weichen Knien den todbringenden Schlag erwartend, da erschien es ihm, als ob er das Geräusch des Herauslösens mehrerer durch dickes Holz getriebener Nägel und dazu eine leise Stimme vernähme, die ihm zuflüsterte: "Kehr um, Charles! Ändere Dein Verhalten und werde endlich der Mensch, zu dem ich Dich einmal von Anfang an bestimmt habe! Liebe Deine Mitmenschen, so wie ich Dich geliebt habe! Gehorche Gott und seinem Wort und geh Deinen weiteren Weg mit ihm, so wie ich ihm gehorcht habe und ihm zeitlebens gefolgt bin!". Er glaubte plötzlich, in diesen eindringlichen Worten an ihn deutlich seine längstverstobene Mutter Simone wiederzuerkennen, wenngleich auch die Stimme ganz klar männlich klang. War es unter Umständen nur das leise Heulen des eisigen Windes, der von draußen unter die Wagenplane fuhr und seinen von Todesfurcht geplagten Sinnen einen Streich spielte? Oder sollte sie es wirklich sein, die da zu ihm sprach? War er vielleicht schon tot und nun im Himmel endlich mit ihr wiedervereint? Entstammte die tiefe Stimme am Ende gar nicht seiner Mutter sondern wirklich einem Herrn - womöglich sogar dem Herrn, dessen Ankunft anch christlichem Glauben kurz bevorstand? Was es auch war, er mußte Gewißheit haben! Und so riß er die Augen weit auf und schaute dabei direkt in ein grelles Licht. Geblendet hielt er sich beide Hände vor die Augen, wobei er strauchelnd in die Knie ging und dabei ausrief: "Herr, was um Himmels willen willst Du denn von mir?". Mitten in dem Licht aber trat ihm im selben Augenblick eine große schemenhafte Gestalt entgegen und sprach mit fester Stimme: "Nun, mein Sohn, zuerst einmal könntest Du Dich wieder aus dem Staube erheben und dann auch mal einen Blick zur Seite werfen!". Charles tat wie ihm geheißen und erblickte neben sich eine der Kisten, die inzwischen aufgestemmt worden war, denn ihre bislang mit Nägeln befestigte hölzerne Deckplatte war deutlich verschoben und gab den Blick frei auf mehrere Pappschachteln mit der Aufschrift "SALVATION INC. Human Insulin". Die mysteriöse Lichtgestalt vor Charles' Angesicht jedoch offenbarte sich im selben Augenblick als die des immer noch unverändert vor ihm stehenden Pauli. Jener Pauli, der just in diesem Moment die zum Öffnen der Holzkiste benutzte Brechstange nach hinten an seine Helferin Diane weiterreichte, welche zuvor ihrerseits eben jenes blendende Licht hervorgerufen hatte, indem sie durch Anheben der hinteren Plane die tiefstehende winterliche Vormittagssonne ins Wageninnere eingelassen hatte.

Erleichtert erhob sich Charles Wannabe wieder. Mein Gott, er hatte sich also ganz umsonst geängstigt! Überhaupt war alles nur ein großes Mißverständnis gewesen. Pauli und Diane waren gar keine Dealer, geschweige denn Mörder. Sie versorgten den Jungen Cedrick auch nicht mit tödlichen Drogen, sondern ganz im Gegenteil mit überlebenswichtigem Insulin. Und der Junge selbst war auch keineswegs ein Junkie, sondern lediglich zuckerkrank. Charles' Haupt senkte sich angesichts dieser tiefgreifenden Erkenntnis reumütig. Und kleinlaut bemerkte er, an Paulis Adresse gerichtet: "Entschuldigen Sie bitte, was ich da eben zu Ihnen gesagt habe! Das alles war nur ein riesiger Irrtum! Aber ich glaubte eben ...". Pauli unterbrach ihn mit einem versöhnlichen Lächeln: "Sehen Sie, Charles, genau das ist mir vor Jahren auch passiert! Ich bin dank meiner Vorurteile und meines Unwissens anfangs einem fatalen Irrglauben aufgesessen, der mich davon abhielt, die offensichtliche Wahrheit zu erkennen. Dann trat jener Fall ein, von dem ich vorhin schon einmal sprach und der mir meine bisherige geistige Blindheit anschaulich vor Augen führte. In dem Moment aber, da ich am Boden lag, hörte ich mit einem Male eine fremde und dennoch gleichzeitig auch eigenartig vertraute Stimme. Die klare Wegweisung, die sie mir damals gab, hat mein bisheriges Leben komplett auf den Kopf gestellt und mich für alle Zeiten grundlegend verändert ...". Nun war es Charles Wannabe, der dem Mann in schwarz ins Wort fiel: "Genau so eine fremde Stimme habe ich eben auch gehört. Und doch klang sie, in allem, was sie sagte, genau wie früher meine Mutter". Eine dicke Träne rann bei diesen Worten über seine Wange. Und in seinem Herzen hallten noch einmal jene gehörten Sätze als Echo wieder: "Kehr um! Ändere Dein Verhalten! Werde der Mensch, zu dem ich Dich bestimmt habe! Liebe Deine Mitmenschen! Gehorche Gott und seinem Wort! Geh Deinen Weg mit ihm!". Vor Charles Wannabes Augen öffnete sich die hintere Wagenplane erneut. Pauli aber - der an Dianes Hand sogleich vom Wagen herabsprang und dadurch mit beiden Beinen wieder fest auf dem Boden stand - gab ihm den Blick frei auf das weite, strahlendblaue Himmelszelt, aus dem heraus sich noch in selber Sekunde die ersten Schneeflocken auf den Weg zur Erde machten. Fasziniert wie einst in Kindertagen folgten Charles' Augen den kleinen, hauchdünnen Kristallen, die den achso schmutzigen Erdboden durch ihr millionenfaches Auftreffen sofort mit einem reinen, zartweißen Schleier überzogen. Tief in sich aber hörte Charles Wannabe erneut jene liebliche Stimme, die ihm feierlich verkündete: "Sieh nur, mein Kind, ich mache alles neu!". Ein Gefühl der Erleichterung machte sich dabei in seinem Innern breit, so als fiele ihm ein riesiger Stein von der Seele. Und jubelnd hüpfte nun auch er - leicht wie eine Feder - vonm Wagen herunter direkt in die Arme des sichtlich überraschten Pauli, wozu er triumphierte: "Ich fühle mich wie neu geboren! Und das ist nicht zuletzt Ihr Verdienst als himmlischer Gesandter, mein Freund!". Pauli aber erhob seine rechte Hand und winkte ab: "Da lassen Sie mir zuviel der Ehre zuteil werden, mein Sohn. Denn da gibt es gewiß vor mir wie auch nach mir jemanden, auf den der Titel 'Himmlischer Gesandter' bei weitem eher zutrifft. Ich hingegen bin allenfalls ein einsamer Rufer in jener Großstadtwüste, die ohne Gottes Wort an ihrer Sündhaftigkeit zugrunde gehen würde. Die Kartenspieler unter den hier Versammelten nennen mich - angesichts meiner Mission im Auftrag des Herrn - übrigens auch gern den Kreuzbuben. Und meine Helferin Diane S. Pencer gilt unter ihnen schlicht und ergreifend als die Königin der Herzen". Das damit angesprochene zarte weibliche Geschöpf hatte sich derweil noch einmal unter die Plane des Wagens begeben und kehrte von dort Sekunden später mit einer dicken rotweißen Kutte, einer rotweißen Bommelmütze, einem schwarzen Gürtel, einem weißblauen Mantel und einer ebensolchen Fellmütze in ihren Händen zurück. Und während um sie herum der Schnee unaufhörlich in immer dicker werdenden Flocken auf die Erde niederging, legte Diane die roten Kutte und den Gürtel mit wenigen geschickten Handgriffen Pauli an und setzte ihm die Bommelmütze auf das kahle Haupt. Sich selbst aber bekleidete sie alsdann mit der Fellmütze und dem weißblauen Mantel.

Weitaus weniger warm gekleidet lief Yelena Svensson durch ihre gutgeheizte Küche. Während im Backofen ein gigantischer Truthahn brutzelte und gemeinsam mit dem frisch gekochten Kaffee im ganzen Raum einen herrlich appetitanregenden Duft verbreitete, warf sie immer wieder einen kurzen Blick aus dem Fenster, vor dem die dicken, weißen Schneeflocken zu hunderten vorbeitanzten. Ein Seufzer entsprang dabei ihrem tiefsten Innern. Ach wie schön er doch immer wieder war, der erste Schnee im Jahr! Und gerade wie gerufen kam er zur morgigen Feier des Heiligen Abends. Ja, früher als Kind, da war es für sie selbstverständlich, daß Schnee zum Weihnachtsfest - das in ihrer russischen Heimat seinerzeit eigentlich immer erst am Neujahrstag begangen wurde - dazugehörte. Am jenem Tage wurde sie dann von ihren Eltern stets um die gleiche Stunde nach draußen geschickt, um mit den Kindern der Nachbarschaft einen großen Schneemann zu bauen. Und wenn sie dann nach gut anderthalb Stunden wieder in die ofenbeheizte Wohnstube zurückkam, dann waren Vater und Mutter verschwunden. Stattdessen aber warteten schon Väterchen Frost im rotweißen Wintermantel und seine ganz in blauweiß gekleidete Helferin Snegurotschka mit einem Sack glitzernder Geschenke auf sie. Und nachdem sie ihr Gedicht vom Tannenbaum aufgesagt hatte, verabschiedeten sich die beiden weihnachtlichen Besucher mit den merkwürdig vertrauten Gesichtszügen wieder von ihr und stapften hinaus in den Schnee, um nach eigener Aussage auch noch die anderen Kinder mit Geschenken zu erfreuen. Kaum waren sie fort, da kehrten auch Vater und Mutter wieder zurück und taten stets ganz überrascht, daß sie die festlich gekleideten Geschenkeüberbringer ein weiteres Jahr um wenige Sekunden verpaßt hatten. Gemeinsam mit ihren Eltern ließ die kleine Yelena dann den Abend beim Auspacken ihrer Geschenke mit Weihnachtsliedern, Tee und Gebäck ausklingen. Der Vater aber las ihr mit seiner wundervollen tiefen Baßstimme zur Guten Nacht - wie er es einige Zeit vorher schon im Angesicht seiner versammelten Gemeinde getan hatte - die Weihnachtsgeschichte nach dem Lukasevangelium aus seiner alten Bibel vor: "Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Und jedermann ging, daß er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt. Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war, damit er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. Und als sie dort waren, kam die Zeit, daß sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge ...". Weiter kannte sie die Geschichte zu ihrer Kinderzeit leider nicht, denn an dieser Stelle war sie jedes Mal eingeschlafen. Ihr Vater aber hatte sich lächelnd über sein Töchterchen gebeugt und ihr einen Kuß auf die Stirn gehaucht, worauf er sie liebevoll zudeckte und dann auf leisen Sohlen zurück ins Wohnzimmer zu ihrer Mutter schlich. Ja, Yelena erinnerte sich auch heute - Jahrzehnte danach - noch gern an jene Weihnachten in Familie zurück. Und nun würde sie es schon bald wieder selbst erleben dürfen. Verbrachten sie und ihr Lukas den Heiligen Abend in den vergangenen Jahren stets nur in trauter Zweisamkeit, so hatte sie diesmal erstmalig nicht nur die Gelegenheit, mit Lukas' Tochter Lisa und deren Mutter Nina Weihnachten zu feiern, sondern auch mit ihrer eigenen, langvermißten Tochter Jane und ihrem Enkelkind, dem kleinen Luke. Cathrin, Janes Lebensgefährtin, hatte sie allesamt am Abend des 24.Dezember zu sich eingeladen. Und im Gegenzug hatte auch Yelena sämtliche Mitglieder ihrer neuen, kleinen Familie für den heutigen Tag zum gemeinsamen mittäglichen Truthahnessen gebeten. Voller Vorfreude warf sie - wie schon ein dutzend Mal zuvor - einen Blick durch das Sichtfenster in den Backofen, öffnete dessen Tür schließlich einen Spalt weit und übergoß den Braten dabei mit einer weiteren Kelle warmen Wassers aus einem, auf der Herdplatte bereitstehenden Topf. Sie schloß die Ofentür wieder und ergriff die Kanne mit dem dampfenden Kaffee, den sie mit ruhiger Hand in die - auf dem Küchentisch bereitgestellten - Tassen eingoß. Dann krönte sie die pechschwarze Flüssigkeit mit je einem Schuß Milch und zwei Stückchen Zucker. Anscließend rückte sie noch einmal das bunte Weihnachtstischdeckchen zurecht und begab sich dann auf leisen Sohlen in ihr eheliches Schlafgemach, wo ihr Gatte noch immer in aller Seelenruhe sanft schlummerte und dabei lauthals schnarchte.

An Schlafen war im stark verschneiten Umfeld der London Bridge gar nicht zu denken, es sei denn, man wollte sich so kurz vorm Weihnachtsfest noch den Tod holen. Pauli und Diane waren in ihren wärmenden Outfits weiter bemüht, die auf dem Wagen mitgeführte, komplett aus Spenden stammende Winterkleidung an die frierenden Obdachlosen zu verteilen, während Wannabe auf Paulis Geheiß einen großen Karton mit alten Sonntagsausgaben der Times unter den Brückenpfeiler trug. Kaum hatte er seine gewichtige Fracht abgestellt, war er auch schon umringt von mehreren Obdachlosen, die ihm die vergilbte Lektüre quasi aus den Händen rissen. Der gute Charlie schaute dem emsigen Treiben nachdenklich zu, und erzitterte allein nur bei dem Gedanken, sein Bett und seine warme Daunendecke daheim bei dieser Kälte gegen eine druckergeschwärzte, dünne Papierschicht hinter einem zugigen Brückenpfeiler eintauschen zu müssen. Beschämt setzte er sich schließlich auf einen großen Stein am Fuße eines der Brückenpfeiler, vergrub sein Haupt zwischen den frierenden Händen und stammelte: "Mein Gott, ich hab so viel und diese armen Geschöpfe so wenig!". In diesem Moment stapfte von der Seite her der kleine Cedrick an ihn heran. In seinen bloßen Händen hielt er ein paar Fausthandschuhe und eine dicke Wattejacke, die er Charles Wannabe freudestrahlend überreichte: "Für Dich, Alter! Damit Du nicht frieren mußt unter Deinen dünnen Nobelfetzen. Ich hoffe, Du bist inzwischen nicht mehr sauer auf mich und hast nun auch nix mehr dagegen, wenn ich mir zukünftig hin und wieder eine kleine Spritze setzen muß?!". Charles schüttelte heftig den gesenkten Kopf, wozu er sprach: "Es tut mir leid! Da hab ich mich wohl echt benommen wie der letzte Trottel, was?!". Mike L. Jags Sohn aber meinte nur augenzwinkernd: "Nö, nicht wie der letzte! Trottel gibts ja sicher auch nach Dir noch jede Menge. Aber im Ernst: Im Grunde genommen hat mir Dein schräger Auftritt vorhin letztlich ja auch gezeigt, daß ich Dir nicht so ganz egal bin. Meinen väterlichen Erzeuger hätte es herzlich wenig gejuckt, ob ich an der Nadel hänge oder nicht. Wenn's nach dem gegangen wäre, dann hätte ich doch eh lieber heute als morgen verrecken können. Was ist so einer wie ich denn auch schon wert?!". Eine Träne kullerte dem Jungen übers dunkelhäutige Gesicht. Charles Wannabe aber, der sich während der kurzen, ergreifenden Ansprache des Knaben dessen Geschenke übergezogen hatte, wischte ihm nun das feuchte Rinnsal mit dem handschuhumkleideten Handrücken fort und zog den kleinen Kindskopf dann ganz fest an seine wattejackenbedeckte Brust. Und während er Cedrick sanft übers krause Haar strich, schluchzte der alte Stiesel: "Du, mein Söhnchen, bist viel mehr wert, als Du glaubst! Du allein hast es nämlich geschafft, einem arroganten, verbitterten Dummkopf wie mir, den das Befinden seiner Mitmenschen bislang einen Dreck scherte, endlich die Augen zu öffnen". Die beiden Mannsbilder verharrten einige Minuten in jener innigen Umarmung und bemerkten dabei gar nicht, daß sich ihnen von der Seite her längst Pauli genähert hatte. Dieser tippte jetzt dem Ex-Yard-Chef auf die Schulter und sprach: "Mein Sohn, ich könnte für einen kurzen Augenblick Ihre Hilfe gebrauchen. Wenn Diane und ich bei dem momentanen Schneegestöber mit unserem Planwagen noch weiterkommen wollen, dann ist nämlich ein zügiger Wechsel auf Winterbereifung unumgänglich, fürchte ich!". Wannabe erhob seinen Blick und schaute dabei in den immer dichter fallenden Schnee, den der inzwischen aufgekommene stürmische Wind eiskalt und mit geradezu atemberaubenden Tempo zu Boden peitschte, wo er sich mittlerweile zu einer Schicht von gut fünf Zentimetern angesammelt hatte. Dann entließ er den Kopf Cedricks aus seiner Obhut, erhob sich raschen Fußes und sagte: "Allzeit bereit! Bin schon zur Stelle!"

Zur Stelle und allzeit bereit war an einem anderen Ort auch Henry Fist, der gerade die Räumlichkeiten des für ihn zuständigen Arbeitsvermittlers bei einem der Londoner Sozialämter verließ. Eine gute dreiviertel Stunde hatte dort er mit der Nummer 024 in der rauhen, kalten Hand auf seinen 10-Uhr-Termin warten müssen, der sich dann innerhalb von nur dreieinhalb Minuten erledigt hatte. Eine kurze und knappe Begrüßung durch den Jobagenten, ein gelangweiltes Kopfschütteln auf die Frage nach Arbeit, eine einstudierte, recht unglaubwürdig vorgetragene Geste des Bedauerns verbunden mit einem abschätzigen Blick auf das Erscheinungsbild Henrys und eine knappe Verabschiedung, die sogar den Wunsch für ein gesegnetes Weihnachtsfest und ein besseres Neues Jahr vermissen ließ. Kopfschüttelnd warf Henry Fist seine Nummer in den - vor der Tür - bereitstehenden Papierkorb und mit ihr ein weiteres Mal all seine leisen Hoffnungen auf eine Verbesserung seiner anhaltend elenden Lebenssituation. Es war zum Verzweifeln! Gab es denn nirgends auch nur eine noch so geringfügige Beschäftigung für ihn?! Während er noch so grübelte, näherte sich ihm ein Mann im feuerroten Anzug, über dem er einen langen dunklen Pelzmantel und eine Fuchsstola um den Hals trug. Das dumpfe Geräusch, das er beim Gehen machte, rührte scheinbar vom rechten steifen Bein her, welches er mit Unterstützung seiner rechten Hand bei jedem Schritt immer wieder dem Rest seines fülligen Körpers hinterher zog. Das recht kurzgeschnittene, von Pomade getränkte Haar jenes Fremden war pechschwarz, und seine Augen verdeckte eine getönte, schwarze Sonnenbrille. Seine Mundwinkel aber umspielte ein merkwürdiges, unbewegliches Grinsen, während er, vor Henry Fist stehenbleibend, durch die reichlich goldgespickten Reihen seiner Zähne loszischte: "Einen schönen Guten Tag, Mister Fist! Mein Name ist Lou Cypher. Wie ich zufällig mitbekam, sind Sie auf der Suche nach Arbeit. Und ich habe gehört, Sie haben mal in der Atomforschung gearbeitet. Nun, mein Freund, ich hätte da ein Angebot für Sie, das Sie wohl kaum ablehnen können. Wenn Sie mir umgehend in mein heimisches Labor folgen würden?! Dort können wir dann alles Weitere besprechen. Mein Wagen wartet draußen schon auf uns! Folgen Sie mir nach!". Ohne überhaupt eine Antwort seines sichtlich verblüfften Gegenüber abzuwarten, machte jene merkwürdige Gestalt auf dem steifbeinigen Hacken kehrt und hinkte vondannen. Henry Fist aber überlegte nicht lange. Er war verzweifelt genug, um nach diesem - ihm dargebotenen - Strohhalm zu greifen, ohne noch großartig nachzufragen. Wie pflegte doch Exbischof Hope immer zu sagen: Gott nähert sich uns in vielerlei Gestalt. Warum also nicht auch in jener, wenn sie auch etwas muffig und nach einem Hauch von Schwefel zu duften schien. Aber das war ja bei einem Wissenschaftler mit eigenem Labor letztlich auch gar nicht anders zu erwarten, oder?! Eiligen Schrittes folgte Henry Fist seinem möglichen neuen Arbeitgeber in Richtung Ausgang. Jenem Ausgang, der ihm in diesem Moment zum ersten Mal seit vielen Jahren zudem auch wie ein gängiger Ausweg aus seiner Misere anzumuten schien ...

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