INSPEKTOR SVENSSON: WANNABE SVENSSON [Der neue Adventskalenderroman]

Die folgenden Ereignisse finden zwischen 14 und 15 Uhr am Vortag zum Heiligen Abend des Jahres 2009 nach Christi Geburt statt. Alles, was Sie lesen, ereignet sich in Koordinierter Weltzeit UTC.

23.12.2009 - 14:00 UHR

[Bei Lukas bahnt sich etwas an, Wannabe hat ein Schlüsselerlebnis]

Lukas Svensson war in seinem trauten Heim derweil in Aufbruchstimmung begriffen. Auch wenn er seine kleine Familie - und besonders Cathrin in ihrem angeschlagenen Zustand - nur ungern allein ließ, so wollte er dennoch endlich wissen, wie weit sein Partner Charles inzwischen mit den Ermittlungen im Fall der verschwundenen Paulusfigur gekommen war. Und so warf er sich nun im Flur rasch seinen abgewetzten Regenmantel über und verabschiedete sich von seiner Tochter Lisa, seiner Exfrau Nina, seiner Stieftochter Jane und seinem Enkel Luke jeweils mit einer ausgiebigen, innigen Umarmung. Daraufhin begab er sich noch einmal ins Wohnzimmer, wo Cathrin nach wie vor sehr blaß wirkend - mit einer dicken Wolldecke sorgsam eingehüllt - auf dem Sofa lag und ihm müde entgegenlächelte. Lukas aber ergriff ihre Hand und raunte besorgt: "Soll ich nicht doch einen Arzt holen? Ich hab da einen alten Freund, Doktor Quinn C. Ok, der ist zwar eigentlich Gerichtsmediziner. Aber immerhin besitzt er einen Doktortitel und versteht sein Handwerk als Arzt. Außerdem ist er immer unheimlich dankbar, wenn ihm im Dienst mal was Lebendiges unterkommt". Cathrin schüttelte lächelnd den Kopf: "Nein, laß mal, aber in die Hände eines Pathologen begebe ich mich dann doch lieber erst, wenn es sich absolut nicht mehr vermeiden läßt". Lukas Svensson stubste ihre Nasenspitze mit seinem Zeigefinger an und sprach: "Na gut! Wenn Du ein wenig lächelst, gefällst Du mir ja auch schon gleich wieder viel besser, Kate! Du solltest Deine beiden süßen Mundwinkel meiner Meinung nach eh viel öfter mal der Schwerkraft entziehen, das steht Dir nämlich richtig gut zu Gesicht!". Yelena Svensson war inzwischen von hinten auf leisen Sohlen unbemerkt an ihren Mann herangetreten und umklammerte nun seine breite, trechcoatummantelte Hüfte mit beiden Armen, wobei sie die Finger ihrer beiden Hände sogleich vor seinem umfangreichen Bauch ineinander verhakte. Dazu hauchte sie ihm ins Ohr: "So, so! Das Herr also wollen sich aus Staub machen ganz still, leise und heimlich! Und dann auch noch hobeln süßes Holz mit Gefährtin von Tochter von geliebtes Ehefrau. Du sein und bleiben echtes Schweresnöter, liebes Luki! Ach, ich Dich schon vermissen jetzt, wo Du noch nicht mal sein gegangen!". Seufzend begann sie, sanft an seinem Ohrläppchen zu knabbern, während Cathrin auf dem Sofa - diskret und müde zugleich - ihre Augen schloß. Lukas aber löste sich aus der innigen Umklammerung seiner Gattin, drehte sich zu ihr um und drückte ihr zum Abschied einen langen Kuß auf die warmen Lippen, die sich noch in selber Sekunde dem Drängen seiner vorstoßenden Zunge öffneten. Ihr ganzer Körper erschauderte, während nun auch sie ihre Augen zukniff und dem Spiel ihrer beider frischvereinten Zungen freien Lauf ließ. Erst ein - nach mehreren Minuten einsetzendes - leichtes Zupfen am Saum ihres Kleides riß Yelena aus der Verzückung des intimen Augenblicks hinaus. Sie schlug langsam die Augen wieder auf und schaute an sich herab, wo das verängstigte Gesicht des kleinen Luke blickte, der ihr sogleich zuraunte: "Aber Oma, Du darfst doch den Opi nicht aufessen!". Yelena und Lukas schmunzelten, wobei sich der Exinspektor zu seinem Patenkind hinunterbeugte und ihm zuflüsterte: "Weißt Du was, mein Junge! Das erklär ich Dir später, wenn Du einmal größer bist!". Der Knabe aber machte ein sichtlich enttäuschtes Gesicht: "Menno, das sagen Mami und Tante Kate auch immer!". Damit stiefelte der der kleine Luke zurück in den Flur, wo er Lisa Svensson beim Üben mit ihrer Geige zusah. Auch der große Luke entschwand - seiner Gemahlin im Gehen noch einmal eine flüchtige Kußhand zuwerfend - in dieselbe Richtung, wo er schon wenige Sekunden später hinter sich die Wohnungstür leise ins Schloß fallen ließ. Im kühlen Hausflur zog er sich seine Handschuhe über und lief dann gemächlich die Treppe hinab zur Haustür und durch sie hinaus auf die schneebedeckte Straße.

Auf ihr war inzwischen auch Charles Wannabe an Bord seines frisch aus polizeilicher Obhut ausgelösten roten Ferrari unterwegs. Im Autoradio lief mit gedämpfter Lautstärke der Countryklassiker "On The Road Again", dessen Melodie der wattejackenbekleidete Privatdetektiv leise mitsummte. Man, wie hatte dieser Typ in der Garage der Kriminaltechnik geguckt, als er Charles in seiner schäbigen Kluft nach dem roten Ferrari fragen hörte. Doppelt und dreifach hatte er Wannabes vorgelegten Ausweis und den dazu überreichten Geldschein auf Echtheit überprüft, bevor er ihn in die schummrige Garagenhalle zu dem Luxusschlitten durchließ. Ja, und dann, in der alten Halle, waren bei Charles mit einem Male die Erinnerungen hochgekocht - Erinnerungen an seine wohl glanzvollste Zeit im Yard. Unter jenem Dach hatte schließlich seinerzeit der beschlagnahmte Rolce Royce des zuvor erschossenen Mafiabosses Spirelli gestanden, in dessen Kofferraum man die beiden Tatmesser entdeckte, die ihm endlich nach mehreren Jahren zähen Ermittelns die nötigen Beweise für die äußerst medienwirksame Aufklärung des Mordes an dem leitenden Bankangestellten Steven Napolitani bescherten. Das Ansehen, das ihm jener unerwartete Fund einbrachte, hatte ihn dann auch zum Chef der neugegründeten britischen Antiterroreinheit CI7 aufsteigen lassen. Ein steiler Karrieresprung war das gewesen - auch wenn er sich damals nicht erklären konnte, weshalb Spirellis sonst so professionell vorgehende Leute so dumm gewesen sein sollten, die Tatwaffen im Auto ihres Bosses zu lagern, statt sie einfach irgendwo auf Nimmerwiedersehen verschwinden zu lassen. Das abrupte Ende des mitgesummten Liedes riß Charles Wannabe aus seiner nostalgisch angehauchten Gedankenwelt. Aus den Lautsprecherboxen seines Autoradios aber drang sogleich die sachliche Stimme eines Nachrichtensprechers an Charles' Ohr, welche verkündete: "Es ist jetzt viertel nach 2 Uhr nachmittags. Und hier nun wieder die RADIO AKTIV 201.5 QUARTER NEWS, unsere Kurznachrichten zur vollen Viertelstunde ... London. In der britischen Hauptstadt kam es aufgrund des plötzlich einsetzenden Schneefalls zu mehreren schwerwiegenden Unfällen. Der Busverkehr kam zeitweise komplett zum Erliegen, so daß viele Berüfstätige und Gäste unserer Stadt auf die Ubahnen ausweichen mußten. Auf großes Interesse stieß dabei auch ein neues Projekt des Verkehrsministers mit dem Titel U-TUBE, Hier können Reisende und andere Privatpersonen nun von ihrem Handy aus übers Internet ihre Videobotschaften hochladen, die anschließend über einen Zentralrechner 24 Stunden rund um die Uhr direkt auf eigens dafür angebrachten Monitore in den U-Bahn-Stationen und in den Wagen der U-Bahn-Züge weitergeleitet werden ...". Charles Wannabe stellte das Radio leiser und schüttelte nur mitleidig den Kopf. Was für eine schwachsinnige Idee! Wer bitte will denn seine Videobotschaften per Ubahn verbreiten. Ja, welcher halbwegs normale Mensch fuhr denn heutezutage beim ständigen Chaos bei den Öffentlichen überhaupt noch Ubahn?!

Einer von denen, die sich dennoch hin und wieder auf ein derartiges öffentliches Nahverkehrsabenteuer einließen, war Lukas Svensson, der just in diesem Moment die Ubahn in Richtung "Baker Street" bestieg. Er preßte sich dabei mit den Massen langsam ins Innere des menschenüberfluteten Wagens. Die Luft im Abteil, dessen Tür sich hinter ihm sogleich wieder leise zischend verschloß, war verbraucht und stickig. Ohnmächtig zu Boden sinken - wie es bei ihm daheim Cathrin Napolitani beinahe getan hatte - konnte man hier dennoch nicht, dazu war es einfach viel zu eng. Geräuschvoll setzte sich schließlich der Zug in Bewegung, wobei Lukas die ganze Zeit gezwungen war, auf den Monitor an der Decke zu starren, der pausenlos irgendwelche wildfremden Gesichter mit ihren gesprochenen Botschaften präsentierte: "Hi, mein Name ist Shinhead. Und ich grüße ganz lieb meinen Schatz in Number 1 Charts Road. Glaub mir, o Conner, nothing compares to you! ... Hallöle! Ich bin der Siegfried aus dem Schwäbliländle ... Ja, hallo erstmal! Ich weiß gar nicht, ob Sie's schon wußten?! Also jetzt um diese Zeit Ubahn fahren?! Ok, das kann man natürlich machen, äh, muß man aber nicht! ... Lurchi hier! Nur mal ganz schnell eben, Herr Becker! Was jetzt die Schadensregulierung in dem Fall einer plötzlich aufgetretenen Inkontinenz angeht?! Jaa, das läuft! ... Ohmmm! Also mein Name war früher mal Christian, aber jetzt heiß ich ganz anders. Ich wollt allen, die die negativen Schwingungen noch nicht in sich empfangen haben, nur mal eines mitteilen: Vorsicht, Freunde! Es fährt ein Zug nach Nirgendwo, und niemand stellt von Grün auf Rot das ...". Ein kleiner gelber Lichtblitz durchzuckte den Monitor, dann blieb er schwarz und stumm. Lukas aber schien sich an diesem Zustand recht wenig zu stören, ebenso wie die anderen, mit ihm zusammen eingeferchten Fahrgäste. Svensson bewegten in diesem Moment ganz andere Gedanken. Und einer von ihnen galt seinem Partner Charles Wannabe.

Eben jenem Charles Wannabe, der in dieser Sekunde sein Auto vor seiner Haustür einparkte, und dann - sich im Geiste schon nackt und Kopf bis Fuß mit einer ganzen Flasche Duschöl übergossen unter der warmen Dusche sehend - in seiner muffigen Wattejacke aus dem Wagen hüpfte. Er geriet dabei auf dem spiegelglatten Gehsteig ins Schlittern, landete auf dem eh schon defekten Hosenboden und rutschte auf ihm unsanft der Eingangstür entgegen. Vorsichtig erhob er sich und klopfte sich den Schneematsch vom Hintern. Dabei registrierte er beim anschließenden Betrachten seiner Finger eine eigenartige braune Beimengung, deren offensichtlicher Urheber ihm nur eine Sekunde später in Form eines schwanzwedelnden, zottligen Mischlingshundes direkt vor die Füße lief. Charles, der angewidert ein - in dieser Situation nicht ganz unpassendes - "Shit!" durch seine knirrschenden Zähne preßte, sah grimmig auf den wild hechelnden, herrenlosen Köter mit seinem zerzausten, verdreckten Fell herab, als sich seine Gesichtszüge mit einem Male sichtlich entspannten. Er kniete sich schließlich sogar zu dem kleinen Floteppich herunter und strich ihm mit der unbeschmutzten Hand über den reudigen Pelz, wobei er die andere Hand notdürftig zugleich im noch nicht konterminierten Schnee des Gehsteigs säuberte. Dazu sprach er: "Meine Güte, Du siehst ja vielleicht aus! Fast so schrecklich wie ich, was?! Und Du hast auch eine Dusche mindestens genauso dringend nötig wie ich! Wie sieht's aus, Lust mitzukommen, kleiner Streuner?!". Als hätte der Hund die Frage verstanden, streckte er ihm seine angewinkelte Pfote entgegen und hob und senkte dabei seinen Kopf wieder und wieder in raschem Tempo. Charles Wannabe ergriff die dargebotene Hundetatze und grinste: "Ok, dann mal los! Ich muß nur noch rasch meinen Schlüssel ...". Zu seiner Verwunderung ging sein Griff in die linke Jackentasche seines Anzugs ins Leere. Seine Hand wechselte auf die rechte Jackentasche, doch auch da fand sich kein Schlüssel. Dafür gelangten sein Zeige- und Ringfinger durch ein großes Loch in der Tasche auf deren Innenseite sogleich wieder ins Freie. Tja, diesen Weg mußte dann wohl auch das Schlüsselbund mit dem Haustür- und Wohnungsschlüssel sowie dem Schlüssel zum Hauseingang der Baker Street 221B irgendwann im Verlaufe des Tages gefunden haben. Auf jeden Fall war es jetzt weg! Und so kam Charles erst einmal nicht in seine Wohnung, geschweige denn an eine heiße Dusche oder frische Kleidung. Nun war er also quasi selbst obdachlos und mittellos obendrein - mit dem einen Pfund und den 94 Pence, die er nach der Auslösung seines Autos noch in der Tasche seiner Wattejacke mit sich trug. Alles, was ihm sonst noch übrigblieb, war, zurück ins Büro zu fahren und darauf zu hoffen, daß Claudia oder auch Lukas ihm irgendwie weiterhelfen konnten.

Schulterzuckend machte Wannabe seinem Hundfreund das Dilemma seiner Situation verständlich und wies dann mit dem Zeigefinger auf den roten Ferrari am Straßenrand. Wieder vollführte der Hund eine Kopfnickbewegung, und Charles begab sich mit ihm gemeinsam vorsichtig über den glatten Gehweg hinweg zum Auto. Wannabe öffnete die Beifahrertür, worauf sein streunender Freund mit einem Satz auf den zugehörigen Ledersitz sprang, während Charles selbst um das Auto herumlief und auf der Fahrerseite einstieg. Er blinzelte seinem tierischen Beifahrer zu und startete dann den Motor, der wider Erwarten nur ein leises Stottern verlauten ließ und dann schwieg. Ein fachkundiger Blick aufs Amaturenbrett reichte aus, um Charles auch dieses Phänomen zu erklären. Der Zeiger der Tankanzeige klebte am unteren Ende des roten Bereichs fest. Wieder formten Charles' Lippen jenen vielbemühten Kraftausdruck mit den vier Buchstaben. Statt allerdings - wie es sonst seine Art gewesen wäre - laut loszufluchen, dachte er nun erst einmal ganz nüchtern nach. Was hätte wohl Pauli in dieser Situation getan? Sicher hätte er wieder irgendsoeinen weisen Bibelspruch oder eine Kalenderweisheit parat gehabt, sowas wie "Wenn sich Dir eine Tür verschließt, öffnet sich Dir dafür ein ... Schlitten?!". Nein, Charles Wannabe litt keineswegs an einer Form von Aphasie - jener Erkrankung, wo einem plötzlich die richtigen Wörter fehlen, und daher im Zweifelsfalle kurzerhand durch andere, den Sinn entstellende ersetzt werden. Vor sich erblickte er durch die Windschutzscheibe hindurch in einer Seitengasse tatsächlich einen Schlitten. Allerdings nicht irgendeinen, sondern eben jenen Pferdeschlitten, in dem er zuvor schon mit Diane und Pauli gereist war. Ja, er hätte diese beiden Gäule und den kufenuntersetzten ehemaligen Planwagen unter Millionen wiedererkannt. So sprang er, gefolgt von seinem Hundefreund, wieder aus dem roten Ferrari heraus und lief eiligen Schrittes auf den winterlich umgerüsteten Pferdewagen zu. Auf dessen Kutschbock fand er beim Eintreffen zu seinem Erstaunen zwar weder Diane noch Pauli, dafür aber einen kleinen, im Wind flatternden Brief vor, auf dem schwarz auf weiß zu lesen war: "Lieber Charles! Ich leihe Ihnen meinen Schlitten, bis der Ihre wieder fahrbereit ist. Geben Sie ihn einfach am zweiten Weihnachtstag bei Exbischof Hope ab! Und machen Sie sich keine Sorgen, Diane und mir geht es gut! Wir werden beide bald wieder da anzutreffen sein, wo wir eigentlich hingehören. Was aber unser Wiedersehen angeht, so verweise ich dabei auf: MARY X. MAS. DECEMBER. 24 CUINCHURCH". Wannabe schüttelte den Kopf. Tja, dieser Pauli war schon ein wundersamer Bursche. Wie er das mit dem leeren Tank seines Autos nur wieder vorhergesehen haben mochte? Und woher wußte Pauli überhaupt, wo er wohnte? Im Grunde genommen aber war all das eigentlich ganz egal. Die Hauptsache war doch schließlich, daß Charles Wannabe und sein streunender Hundekumpel erstmal einen fahrbaren Untersatz hatten, der sie auf schnellstem Weg zum Detektivbüro zurück und damit gleichzeitig der Aussicht auf eine warme Dusche und etwas Neues zum Anziehen näher bringen würde. Und so ergriff Charles Wannabe das reudige Hundchen zu seinen Füßen sachte mit beiden Händen, hob es in die Höhe und setzte es auf der Ladefläche des Schlittens wieder ab, auf dessem Kutschbock er sogleich ebenfalls platznahm und die Pferde mit einem kräftigen "Hüah!" zum Aufbruch in Richtung Baker Street 221B ermunterte.

Im Chefbüro von Scotland Yard ging derweil die Vernehmung des Zeugen Henry Fist durch Sir Jeffrey Douglas zuende. Dem Yardchef erschien die Aussage Fists dabei durchaus plausibel. Schon lange gab es immer wieder ernstzunehmende Hinweise, daß Europa ein Nuklearanschlag größeren Ausmaßes ins Haus stehen könne. Wer dafür als möglicher Urheber infrage käme, blieb allerdings bis zu diesem Zeitpunkt stets im Dunkeln. Die Terrororganisation "Nowoij Djehn", die für die eventuelle Ausführung eines solch großangelegten Unternehmens am wahrscheinlichsten erschien, galt nach dem Tod ihrer beiden wichtigsten Köpfe Iwan Kowarno und Derrik Crawler als zerschlagen. Und eine Tochtergesellschaft schien es bislang nicht zu geben. Nun aber trat mit dem Namen "Final Countdown" eine weltweit agierende Im- und Exportfirma auf den Plan, die bekanntermaßen unter anderem in New York, Moskau und Berlin Niederlassungen unterhielt. Daß es auch in London ein Büro gab, war dem Yard bekannt, doch dieser - in der Charts Road gelegene - Gebäudekomplex war auf keinen Fall das von Fist beschriebene Versteck jenes Lou Cypher, der bei dem Atomanschlagsplan offensichtlich alle Fäden in der Hand hielt. Nein, es gab bei den Behörden bislang auch nicht den geringsten Hinweis auf diesen mysteriösen Herrn, geschweige denn auf seinen möglichen Aufenthaltsort. Und so erwuchs in Jeffrey Douglas nach all dem Gehörten langsam und unaufhaltsam der Plan für einen weiteren seiner spektakulären Alleingänge, die ihm - im Falle eines Erfolges - jede Menge Ruhm, Ansehen und eine Titelseite in jeder größeren englischen Tageszeitung einzubringen versprachen. War er während der Aussage Fists die ganze Zeit über im Büro auf und abgegangen, so nahm er nun wieder vor dem sichtlich eingeschüchterten Mann lässig auf der Schreibtischplatte platz und sprach mit vorwurfsvoller Stimme: "Meine Güte, was machen wir denn da bloß? So, wie Sie den Fall hier schildern, sitzen Sie jetzt aber ganz schön in der Tinte, mein lieber Henry! Gesetzt dem Fall, es fände sich plötzlich ein Augenzeuge, der sich im Sozialamt an Sie erinnert und Sie aus freien Stücken mit diesem Herrn Cypher mitgehen sah. Das schaut doch dann für die Geschworenen vor Gericht gleich so aus, als seien Sie einer seiner Komplizen und hätten am Ende nur kalte Füße bekommen. Wer würde jemandem wie Ihnen denn dann überhaupt noch glauben, daß Sie von den kriminellen Absichten des Herrn Cypher anfangs gar nichts gewußt haben?! Und so ein Zeuge ist schnell gefunden. Wollen wir wetten, daß ich Ihnen morgen früh gleich auf Anhieb vom Flur des Sozialamtes gleich ein ganzes Dutzend Männer heranschaffe, die gegen eine äußerst großzügige Erstattung ihrer Unkosten zu so einer Aussage bereit wären, und das sogar unter Eid?! Nein, mein Bester, wenn ich Ihnen unbeschadet aus der Sache heraushelfen soll, dann müßten Sie mir schon noch ein wenig entgegenkommen und wohl oder übel auch etwas für mich tun! Ich schlage vor, wir statten Sie mit einem unserer Peilsender aus und folgen Ihnen dann beim ja eh schon vereinbarten Zusammentreffen mit diesem Herrn Cypher unauffällig bis zu dessen Versteck nach. Dort heben wir die Räuberhöhle mit unseren Beamten einfach aus. Und schon sind die Verbrecher im Knast, die Gefahr ist gebannt, und Sie sind aus dem Schneider! Ein Kinderspiel! Na, was sagen Sie dazu?". Henry Fist zögerte ein wenig, dann meinte er nervös: "Ich soll mich noch einmal mit diesem Herrn Cypher treffen?! Aber der Mann ist doch gefährlich! Was ist, wenn er mir etwas antut?". Jeffrey Douglas beugte sich zu Henry Fist herunter und legte ihm die Hand auf die Schulter: "Nun machen Sie aber mal halblang, First! Wir sind doch die ganze Zeit über direkt an Ihnen dran! Was soll Ihnen denn da schon passieren? Sobald dieser Cypher auch nur eine falsche Bewegung macht, greifen wir ein und nehmen ihn fest! Wie ich schon sagte, ein Kinderspiel und ganz ohne jedes Risiko". Die beiden Beamten, die hinter Fist und Douglas an der Bürotür Wache hielten, tuschelten miteinander, wobei der eine dem anderen zuflüsterte: "Ganz ohne jedes Risiko?! Ja, aber nur für einen!". Der andere aber grinste nur breit und raunte zurück: "Ja genau, ob der kleine Penner dabei seinen Hals riskiert, interessiert den Chef am Ende doch eh nur einen Dreck!". Noch immer zögerte Henry Fist mit seiner Zustimmung für die waghalsige Aktion. Douglas aber entzog ihm mit verärgerter Mine die aufgelegte Hand wieder und fauchte ihn stattdessen an: "Also gut, wenn sie partu nicht wollen, wir können auch anders! Ich ruf jetzt einfach den Haftrichter an, erzähl ihm Ihre merkwürdige Geschichte vom zufälligen Treffen inklusive meiner kleinen Weltvernichtungs-Beihilfe-Theorie, und schon sitzen Sie die längste Zeit Ihrer restlichen Tage im Loch! Wenn Ihnen das besser gefällt?!". Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, nahm er den Telefonhörer zur Hand und wählte eine mehrstellige Nummer. Dazu machte er noch immer ein sehr ernstes Gesicht und hielt sich den Hörer ans Ohr. Kleinlaut aber tönte ihm aus Fists Richtung ein "Ja doch, ich tu's ja!" entgegen, während an seinem anderen Ohr zugleich eine montone weibliche Stimme verkündete: "Beim nächsten Ton ist es genau 15 Uhr, 0 Minuten und 0 Sekunden", gefolgt von einem deutlichen Beep ...

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